Triggerwarnung: Dieser Artikel behandelt sensible Themen, die Erinnerungen an belastende Erfahrungen auslösen können. Bitte lesen Sie achtsam, wenn Sie betroffen sind. Mögliche Auslöser werden mit (TW:) markiert.
Psychotrauma: Was ist das?
Psychotrauma wird laut der WHO (1991, ICD-10) als „kurz- oder langanhaltende Ereignisse oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß“ definiert. Solche Ereignisse können bei nahezu allen Menschen tiefe Verzweiflung auslösen.
In der Praxis wird diese Definition mittlerweile weiter gefasst. Zwei treffendere Erklärungen stammen von Michaela Huber und Lutz Besser, renommierten Fachkräften im Bereich Psychotrauma:
„Traumata sind plötzliche, langanhaltende oder sich wiederholende, objektiv oder subjektiv existenziell bedrohliche und ausweglose Ereignisse. Menschen geraten dabei in die Schutzlosigkeit der ‚traumatischen Zange‘. In dieser Situation arbeitet unser Gehirn anders als bei normalen Erfahrungen.“
Ich gehe sogar noch weiter: Ein Trauma ist das, was subjektiv als solches erlebt wird.
Warum sage ich das? Weil jeder Mensch eine individuelle Reaktion zeigen kann und es mir nicht zusteht, irgendwelche objektiven Erwartungen an ein Erlebnis zu stellen.
Individuelle Reaktionen: Was bedeutet das?
Als erstes bedeutet es, dass jeder Mensch unterschiedlich ist und deshalb auch individuell reagiert. Dadurch kann eine Situation für eine Person traumatisierend sein und für eine andere Person nicht.
Ein Psychotrauma kann auf unterschiedliche Weise entstehen. (TW:) Beispielweise könnte ein Trauma eine einmalige Angelegenheit sein. Eine Flutkatastrophe, ein Zugunglück, ein Autounfall. Es kann aber auch ein langanhaltender Auslöser zugrunde liegen. Eine Flucht, Krieg oder ähnliches. Oft werden Traumafolgestörungen aber auch aus wiederholtem Erleben entstehen. Wiederholte Gewalt, mehrfache Autounfälle oder Ähnliches.
Die erlebte Situation wird von dem Menschen als lebensbedrohlich eingestuft.
Hierbei muss es nicht unbedingt eine spontane Gefahr für das körperliche Wohl in dem Moment geben. Der Mensch braucht die Inklusion in der Gesellschaft, soziale Kontakte, ein Dach über dem Kopf, Wärme, Essen auf dem Tisch, emotionale Nähe und vieles mehr, um leben zu können. Wenn also eines dieser Elemente bedroht wird, kann es zu einer Traumafolgestörung kommen.
In den Momenten dieser existentiellen Bedrohung reagiert unser Gehirn anders als sonst. Ich möchte Ihnen dies gerne anhand der traumatischen Zange veranschaulichen.
Die traumatische Zange: Eine Erklärung
Die „traumatische Zange“ beschreibt die Entstehung einer Traumafolgestörung. Sie basiert auf den drei überlebenswichtigen Reflexen.
Sie haben bestimmt schon einmal von Fight und Flight gehört. In Situationen, die angespannt sind, reagieren die Menschen unterschiedlich.
Manche Personen reagieren mit dem Fight-Reflex, sie wehren sich verbal oder physisch.
Andere Personen reagieren mit dem Flucht-Reflex, sie verschwinden aus der Situation. Das ist aber nicht in allen Situationen möglich. Wenn weder Flucht noch Angriff möglich sind, rutscht man in der traumatischen Zange weiter ab. Der Organismus erstarrt. Das ist der sogenannte Totstellreflex. Und hier passiert nun eine Fragmentierung des Erlebten. Das Gehirn verarbeitet inzwischen nicht mehr die komplette Situation, sondern zersplittert diese. Hier müssen wir uns kurz das sehr vereinfachte, 3-teilige Gehirn ansehen.
Das 3-teilige Gehirn und Trauma
Die Großhirnrinde ist dafür zuständig, dass wir bewusst denken, planen und handeln können. Auch die Sprachzentren und die Verarbeitung von Sinnesreizen sitzen in diesem Teil. Es ist der jüngste Anteil des Gehirns.
Das limbische System ist der Bereich, in dem unsere Emotionen angesiedelt sind. Hier findet sich auch unsere Amygdala, welche unser „Alarmsystem“ ist. Sie ist es, die uns vor Gefahren warnt. Des Weiteren werden im limbischen System auch Erlebnisse verarbeitet und zu Erinnerungen gemacht, die dann abgespeichert werden.
Der dritte Teil ist unser Reptiliengehirn. Das ist das älteste Gehirn und es ist für einiges zuständig. Zum Beispiel: Instinkt, Atmung, Herzschlag und Schlucken.
Jetzt können wir zum letzten Punkt der traumatischen Zange zurückgehen. Wenn weder Flucht noch Kampf möglich sind, kommen also die Reflexe ins Spiel. Das Gehirn ist nur noch am Überleben interessiert, also schaltet es das Großhirn ab. Jegliches Denken und Planen wäre hier nun hinderlich. Inzwischen besteht aber auch kein Zugriff mehr auf das Sprachzentrum, beispielsweise. Wenn die traumatische Situation also vorbei ist, ist die Erinnerung nicht mehr synchronisiert und kann deshalb auch nicht abgespeichert werden wie alle anderen Erfahrungen.
Was passiert nach einem Trauma?
Das Erlebte kann nicht verarbeitet werden, da es zerstückelt, oder fragmentiert, ist. Die Amygdala hat gelernt, dass das eine gefährliche Situation war, vor der die betroffene Person geschützt werden muss. Also wird sie über achtsam (Hypervigilanz) und schlägt bei jeder Kleinigkeit, die an die Situation erinnert, Alarm. Diese Auslöser werden Trigger genannt. Diese Trigger lösen dann aber wieder das Erleben der traumatischen Situation aus und die Person wird zurückgeworfen und steckt wieder im Trauma. Erneut schaltet das Großhirn ab und es fehlt wieder jeglicher Bezug zu Raum und Zeit, der es ermöglichen würde, dass sich die Person orientieren kann. Oft verarbeitet das Gehirn mit etwas Zeit das Erlebte von allein oder die/der Betroffene hat ein gutes Umfeld, was bei der Verarbeitung hilft. Wenn dies aber nicht geschieht, kann der Mensch eine Traumafolgestörung entwickeln.
Soweit nun die Basis zu Psychotrauma und Traumafolgestörungen. Nächste Woche möchte ich etwas tiefer auf das heute Gelernte eingehen. Stellen Sie gerne Ihre Fragen und kontaktieren mich, wenn Sie sich wiedererkannt haben und Hilfe benötigen.
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